Wir leben in einer komischen Zeit. Einer Zeit der Extreme. Sieht man jeden Tag, fühlt man, merkt man.

Da wird man vor einigen Wochen noch von Meldungen erschüttert, wie irgendwelche Hohlköpfe ihren Frust, ihre Aggressionen und ihre Dummheit an Flüchtlingsheimen auslassen und Brandsätze da rein werfen; man schämt sich in Grund und Boden und denkt – vor allem als selbst ausländischer Mensch – „einfach nur noch auswandern“! Wenige Tage später wird Deutschland überrollt von einer gefühlt noch nie dagewesenen Welle des zivilen Engagements, der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Auf unvergleichliche Weise koordinieren sich Menschen, um Flüchtlingen zu helfen. Das alles kann man dann in Echtzeit auf sämtlichen medialen Kanälen verfolgen.

Ich selbst war in den letzten Wochen auch immer mal wieder an den Hamburger Messehallen, um beim Sortieren der Kleiderspenden usw. zu helfen. Man spürt eine regelrechte Euphorie bei allen Beteiligten, ein richtig gehendes „Hilfe-High“. Richtig seltsam fühlt es sich dann an, wenn man Videos sieht, wo Menschen an Bahnhöfen ankommende Flüchtlinge mit lauten Gesängen und Applaus begrüßen. Versteht mich nicht falsch, ich finde das wunderbar, und alles, was ich in den letzten Wochen darüber gesehen, gehört und selbst erlebt habe, rührt mich regelmäßig zu Tränen. Dieses Ausmaß von Empathie habe ich ehrlich gesagt diesem Land bis vor zwei Wochen gar nicht zugetraut.

Trotzdem will mich seit ein paar Tagen auch so ein seltsames Gefühl nicht verlassen. Kann das lange gut gehen? Diese Euphorie? Dieser Überschwang an Gefühl? Und vor allem: wo kommt das plötzlich her? Ich erinnere mich noch, als ich im Januar nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen und den ersten Pegida-Aufmärschen Freunde zum Demonstrieren animieren wollte, stieß ich auf ziemlich viel Zögerlichkeit.

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Ich habe ja eine Vermutung. Eine ziemlich konservative, die wahrscheinlich dem Credo meiner Oma entspringt, die immer zu sagen pflegte: „Alles in Maßen.“ Vielleicht ist es so: Wir leben in dieser wahnsinnig schnellen, sehr ich-bezogenen Welt. Alles kann, muss, soll in Echtzeit geteilt und vermittelt werden – Arbeit, Freizeit, Spaß. Und wenn uns das zu viel wird, gibt es eine ganze Entschleunigungsindustrie, von Achtsamkeitsseminaren über Bastelkurse und Apps (!!), die dabei helfen sollen, die eigene Erreichbarkeit zu regulieren. Alles ist extrem. Alles ist schnell. Alles muss immer sofort. Muss effizient.

Dabei haben wir vielleicht verlernt, dass Gefühle Zeit brauchen. Dass echte, starke Haltungen nicht per Knopfdruck entstehen. Dass alles, was unter Extrembedingungen erlebt und „gefühlt“ und produziert wird, ganz oft keinen langfristigen Bestand hat. Kommt diese Gefühlswelle grad vielleicht auch deshalb zustande, weil Mensch diese eigentlich urmenschlichen Emotionen so lange gedeckelt, aus seinem Leben wegrationalisiert hat? Freuen sich die Leute grad auch deshalb so, weil sie endlich mal wieder fühlen und Gefühle zeigen dürfen?

Wenn sich zum Beispiel Menschen plötzlich darüber wundern, dass man ja mit ganz einfachen Dingen, ganz einfachen Fragen schon sehr viel erreichen kann, frage ich mich: Wie habt ihr denn gelebt die letzten Jahre? Wo ist denn diese ganz selbstverständliche Zwischenmenschlichkeit hin, die ich noch zu Hause gelernt habe? Dass man Menschen, die sich auf der Straße suchend umschauen, fragt: „Hey, kann ich helfen?“, oder jemandem mal eben sein Auto leiht, der es kurzfristig braucht? So aus der Mode gekommene Dinge wie „Nachbarschaft“ oder christlich gesprochen „Nächstenliebe“ werden offenbar grad neu entdeckt und wie alles, was neu ist, nun mit so viel Überschwang zelebriert, dass es mir manchmal fast unheimlich vorkommt.

Alles, was zur Zeit in Sachen Flüchtlingshilfe passiert, finde ich grandios, keine Frage. Aber eines würde ich mir trotzdem wünschen: Dass wir alle was daraus lernen für’s eigene Leben: Es ist nicht damit getan, jetzt ein paar Wochen euphorisch Spenden zu sortieren und Geld zu spenden. Was in diesem Land im Moment passiert, wird langfristige Folgen haben. Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen das Glück haben werden, in Deutschland bleiben zu dürfen. Aber – die werden auch dann noch, wenn Wintermäntel und Wollsocken fertig sortiert sind, noch Hilfe und Unterstützung brauchen. Wer jetzt euphorisch „Refugees Welcome!“ ruft, der ist in der Verantwortung, diese Beziehung, die er da zu vielleicht einem, zwei oder mehr Menschen aufbaut, auch aufrecht zu halten. Auch, wenn die Masseneuphorie abgeebbt ist.

Und da kommen dann diese altmodischen Werte wieder ins Spiel: Die sollte man in seinem Überschallleben nie, nie, nie vergessen. Ich glaube, das ist das, was man jetzt lernen kann! Einfach immer weiter machen. Muss ja nicht immer so euphorisch sein! Wer übrigens in Hamburg gern zupacken möchte, ist zB hier gut aufgehoben! Wir sehen uns dann da!

Diese letzten paar Tage waren, wenn man so in die Welt blickt, traurig und beängstigend und skurril.

Am Montag stand ich noch mit 5000 anderen Menschen am Glockengießerwall in Hamburg, um gegen die Pegida-Schwachmaten zu demonstrieren. Das gab Hoffnung, man dachte sich, ach, es sind eben Schwachmaten, die Guten und die Denkenden sind in der Mehrheit. 48 Stunden später kommt es dann zu dem katastrophalen Anschlag auf das Magazin Charlie Hebdo in Paris. Alles ist anders, schon wieder, in wenigen Sekunden.

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In meinem Freundeskreis wird seither wild diskutiert – emotional, verwirrt, ängstlich. Was ist das denn bitte für eine Zeit, in der wir grad leben, wo ausgemachte Rechte in schicken Anzügen demnächst wohl in den Bundestag einziehen und bärtige junge Männer einfach mal 12 Menschen abknallen? Fragen werden aufgeworfen, wie kann es so weit kommen, dass junge Menschen sich derart gehirnwaschen lassen, dass sie zu diesen eiskalten Tötungsmaschinen werden? Was ist die adäquate Reaktion auf solche grausamen Taten? Ist das Abdrucken der Hebdo-Karikaturen nun Provokation oder Widerstand? Kann man diesen Terrortypen nicht den Geldhahn zudrehen? Woher bekommen die überhaupt ihr Geld? Am Ende sagt immer irgendwer irgendwas von meine deutschen Werte!“ – und dann geht dieses ganze Thema los …

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den 11. September 2001. Da war das alles ganz ähnlich. Nur viel verwirrender und frischer. Meine Generation kannte Terroristen nicht als Teil ihres Nachrichtenalltags. Die Generation unserer Eltern ist aufgewachsen mit Baader, Meinhof und Konsorten, und auch wenn es sich bei denen im Vergleich zur aktuellen Terrorsituation geradezu um die Bewohner von Schlumpfhausen handelt, so gab es doch ein Bewusstsein für Wut und Gewalt, die sich völlig unangekündigt und willkürlich zeigen konnte.

Mir macht die Zeit, in der ich lebe grad auch viel Angst. Ich finde die politische Entwicklung in diesem Land irritierend und beängstigend, finde die Vereinfachung in der öffentlichen Diskussion gefährlich, finde es furchtbar, dass sich ein Großteil meiner Generation aus Hilf- und Ratlosigkeit in die Bequemlichkeit eines betroffenen Schulterzuckens zurück zieht.

Ich habe auch keine Antworten auf die oben gestellten und dieser Tage immer wieder aufkeimenden Fragen. Ich habe noch keinen Weg gefunden, mit weniger Angst und Sorge morgens Zeitung zu lesen. Aber eins steht fest – nur, weil man keine Antworten hat und die Zeitungslektüre wenig Spaß bringt zur Zeit, darf man den Mund nicht halten und aufhören, Haltung und Position zu beziehen. „Nichts nährt Populismus besser als das kollektive Beschweigen von Angstthemen durch die Medien“, hieß es gestern in einem sehr guten Essay.

Dem schließe ich mich an. Meinungs- und Pressefreiheit sind in unserem Grundgesetz verankert und zentrale Säule eines demokratischen Systems. Wer sich innerhalb dieses demokratischen Systems aufhält, darin lebt, seine Vorzüge genießt, hat sich damit abzufinden, dass diese im Grundgesetz verankerte Freiheit über dem Empfinden des Einzelnen steht. Get over yourself already, mich beleidigen auch viele Dinge, die ich hinnehmen muss: Kristina Schröder, Der FC Bayern und nicht zuletzt Pegida. Aber ich muss damit leben und darf nicht einfach mit der Uzi ins Bayern-Stadion marschieren! Egal, in wessen Namen!

In Hamburg findet am Montag ab 18 Uhr am Gerhart-Hauptmann-Platz wieder eine Demo statt. Ihr solltet hingehen!

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Vor einer Weile zeigte mir ein ägyptischer Freund in Berlin den wunderbaren Film „Tracks of Cairo“.

Der Film stellt verschiedene Musiker und Bands aus Cairo vor und zeigt sie bei der Arbeit und bei Live-Auftritten. Gemeinsam suchten wir sämtliche Tracks und Songs aus dem Film zusammen. Nur einen Song konnten wir nicht finden; weder auf der Tracklist des Films noch bei intensivsten Internetrecherchen. Es war ein elektronisches Stück mit einer wunderschönen, fern-abwesenden, intensiven Frauenstimme, die immerzu flüsterte „Anta al Hawa“ (Du bist der Wind). Irgendwann haben wir aufgegeben und mein ägyptischer Freund schnitt das Stück einfach als Soundfile aus dem Film heraus für mich.

Vor ein paar Tagen habe ich durch Zufall endlich die Sängerin dieses tollen Songs gefunden. Yasmine Hamdan heißt sie, und kommt aus Beirut. Und am Freitag hatte ich das große Glück, sie im wunderschönen Hamburger Nochtspeicher live erleben zu können.

Dem breiteren Publikum ist Yasmine Hamdan seit Kurzem vielleicht bekannt aus ihrem kleinen Cameo-Auftritt in Jim Jarmuschs letztem Film Only Lovers Left Alive (großartiger Film, übrigens!). Tatsächlich macht sie aber schon seit über zehn Jahren Musik. Mit Indie-Projekten wie Y.A.S. und Soapkills ist sie in den arabischen Ländern schon lange erfolgreich.

Ich war unsicher, was oder wen ich im Nochtspeicher zu erwarten hatte. Arabische Musik, die nicht unbedingt in die grauenvolle Kategorie „Weltmusik“ fällt, ist ja nun nicht gerade ein Publikumsmagnet in Deutschland. Umso überraschter war ich, dass das Hamburger Konzert ausverkauft war. Das Publikum rangierte von Hipstern und jungen  Menschen meines Alters bis hin zum (seltsam…) klassischen Bildungsbürger spätmittleren Semesters in Tweed und Stöckelschuh. Man trank Wein und Aperol Spritz, alles etwas schräg.

Yasmine Hamdan schien das nicht so richtig zu interessieren. Klein, zierlich und unfassbar sexy kommt eine schöne Frau zusammen mit ihren 3 Musikern auf die Bühne und liefert von der ersten Sekunde an ein energiegeladenes Rock n Roll-Feuerwerk der Extraklasse ab. Dass die meisten Leute zwar sichtlich angetan, aber eben typisch deutsch nur vor der Bühne stehen, wohlwollend mit dem Kopf wippen und brav am Ende der Songs applaudieren, anstatt zu tanzen und sich von der großartigen Musik mitreißen zu lassen, irritiert die Band scheinbar nicht. Mich stört’s schon ein bisschen, wie immer, aber wir lassen uns den Spaß nicht verderben und tanzen, jubeln und feiern einfach für uns und mit Yasmine.

 Die Stücke, die ich mir inzwischen auch auf der aktuellen CD Ya Nass angehört habe, sind für den Auftritt neu arrangiert und instrumentiert. Während das Album recht ruhig und melancholisch daher kommt, steigern sich die Songs live in wahre Klangorgien. Yasmine flirtet, meditiert, leidet und feiert jede Silbe, die sie singt und transportiert in ihrer Sinnlichkeit und dank ihrer rauen, tiefen Stimme eine Energie, die man bei Konzerten nur ganz selten erlebt.

Mich persönlich berühren die Songs derart, dass mir mehrmals die Tränen kommen. Meiner Begeleiterin, die übrigens kein Arabisch spricht, ging es genauso, was ja nur heißen kann, dass Yasmine Hamdan sich auch so verständlich macht, durch ihre Aura, durch ihre Musik und ihre Präsenz.

Eins der besten Konzerte, das ich seit Langem erlebt habe – ich bin verliebt!

Und ich hoffe, mein ägyptischer Freund liest das jetzt – Hey Amin, ich hab den Song gefunden!!

 

West-östliche Diva