Neulich im Kino: Auf der Leinwand: Junge Menschen und alte Menschen, Männer und Frauen, mit und ohne Kopftuch, zu tausenden, zehntausenden auf den Straßen. Sie halten Plakate, schwenken Fahnen und Banner, singen, skandieren Parolen, fordern freie und faire Wahlen.

Ein Zeitzeuge berichtet: „Die ganze Welt, CNN, BBC, Al Jazeera, alle berichteten live von den Protesten. Nur im Nationalfernsehen waren stundenlang Tierfilme zu sehen. Dann ein Newsflash auf der Leinwand: Telefonleitungen werden gekappt, Internet- und SMS-Dienste blockiert.Dann Schüsse und undeutliche Bilder von Handy-Kameras. Menschenmassen geraten aneinander, Rauchschwaden, Schreie, Sirenen, man sieht, wie verletzte Menschen von der Straße getragen werden.

Was mich in diesen ersten paar Minuten in meinem Kinosessel am meisten erschreckt, ist das Gefühl von Déjà-vu. Hatte ich nicht gerade vor ein paar Wochen genau diese Bilder wie gebannt verfolgt?
Aber nein, in dem Film, der da vor mir läuft, geht es nicht um Kairo, nicht um die ägyptische Revolution.

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In einem mal wieder wunderbaren Artikel beschreibt Robert Fisk das, was derzeit im Nahen Osten vor sich geht, als die erschütterndste, lebhafteste und gleichzeitig (für den Außenstehenden) lähmendste Zeit seit dem Osmanischen Reich. „Schock und Ehrfurcht“ seien die richtigen Worte, meint er.

Und neben den inzwischen seit Wochen anhaltenden revolutionären Bewegungen und Unruhen blickt Fisk in seinem Text auch auf Saudi Arabien. Ich selbst schaue auch nach Saudi Arabien. Da lebt meine arabische Familie, Onkel, Tanten, jede Menge Cousinen und Cousins, mit vielen haben wir engen Kontakt.Und ich bin wirklich furchtbar neugierig, was sie dort von den Ereignissen in Nahost (Fußnote: Lieber Spiegel Online, ES GIBT KEIN LAND, DAS ARABIEN HEISST!!!! Das ist der Nahe Osten!! Ich wäre sehr dankbar, wenn man im 21. Jahrhundert nicht mehr über diese orientalistischen Termini stolpern würde. Danke.) – also, von den Ereignissen in Nahost halten, was sie davon überhaupt mitbekommen, wie die Weltlage überhaupt dort rezipiert wird.

Aber mit Saudis über Politik reden, das ist schwer. Zum einen natürlich, weil in einem Land, in dem eine absolute Monarchie regiert, auch strengste Zensur und damit keinerlei Debattenkultur herrscht. Denn Diskutieren will ja auch gelernt sein. Unterhaltungen über Themen wie zum Beispiel das Fahrverbot für Frauen verlaufen dann meistens so:

Ich: „Aber wieso dürfen Frauen denn bei euch immer noch nicht Auto fahren?“
Cousine: „Das steht so im Gesetz. Sie wollten es schon vor einer Weile ändern, aber bis jetzt ist noch nichts passiert.“
Ich (schon leicht rot angelaufen): „Aber das geht doch nicht! Da müsst ihr doch was gegen unternehmen! Aus welchem Grund sollten Frauen nicht fahren dürfen?!“
Cousine (stoisch): „Vielleicht ändern sie es ja dieses Jahr.“

Und so wird es jedem gehen, der einmal versucht hat, mit einem Saudi über soziale oder politische Gegebenheiten in dem Land zu diskutieren. Stoisch wird mit den Schultern gezuckt (stoisch, oder doch phlegmatisch …), nein, es ist besser, wenn man sich nicht einmischt, das bringt nur Unbequemes mit sich. Außerdem, und das darf man natürlich nicht außer acht lassen, darf man ja seine Meinung gar nicht sagen. Auf freie öffentliche Meinungsäußerung stehen Geld- und Gefängnisstrafen.

Und bequem hat es trotz eiserner Monarchie ein Großteil der Bevölkerung noch immer. Dem sehr beliebten König Abdallah gelingt es (noch), durch sein Weihnachtsmann-Regime mittels Geld zumindest provisorisch die Wunden der saudischen Gesellschaft zu verarzten. Erst in der vergangenen Woche hat der König nach dreimonatiger Abwesenheit wegen medizinischer Behandlung in den USA sein Volk anlässlich seiner Rückkehr mit einer ziemlich großen Summe bedacht. „Ein Geschenk an das Volk“ sei das, und solle soziale Maßnahmen wie zum Beispiel Arbeitslosenversorgung, Wohnungsbau und Ausbildung investiert werden.

Doch unter der Oberfläche brodelt es schon seit einer Weile. Bevölkerungswachstum und damit einhergehende Arbeitslosigkeit und Armut gehen auch an einem der reichsten Länder der Erde nicht vorbei. Erst vor wenigen Wochen haben hunderte Männer still in der Hauptstadt Riyadh protestiert. Denn 2011 ist schon das zweite Jahr in Folge, in dem das ganze Land durch massive Regenfälle nahezu zum Stillstand gekommen ist. Mangelnde Bauweisen und eine nahezu nicht vorhandene Kanalisation führten zu schlimmen Überschwemmungen und Schäden an Häusern und Straßen. Menschen konnten nicht zur Arbeit oder aus ihren Büros, Schulen oder Universitäten, sie übernachteten tagelang in Hörsälen und Krankenhäusern. Nachdem die Überschwemmungen schon im letzten Jahr mehrere Tote gefordert haben, hatte das Königshaus zugesagt, in Straßen- und Kanalbau zu investieren und Schäden zu beheben. Es geschah nichts, und die Szenen von 2010 wiederholten sich.Sowohl westliche und arabische Journalisten wie auch Blogger aus Saudi Arabien selbst fragen sich, wie groß das revolutionäre Potential im Magischen Königreich wirklich ist, und wirken allesamt unsicher. Klar scheint allen zu sein, dass das Erdbeben, das den Nahen Osten erfasst hat, auch an Saudi Arabien nicht spurlos vorbei gehen kann und wird. Doch eine so wuchtige „Thaura“ wie in Ägypten, die erwartet wohl keiner auf den Straßen von Jeddah oder Riyadh. Doch das Königreich ist zu komplex, zu kompliziert sind die Machtstrukturen des Hauses Sauds mit dem Rest der Welt, als dass sich eine halbwegs zuverlässige Prognose abgeben ließe.

Natürlich spielt Öl eine große Rolle, und Amerika und Europa und allerlei internationale diplomatische Verstrickungen. Davon verstehe ich aber nicht viel, vor allem nicht von Öl. Aber ich weiß, dass die Saudis ihren König im Allgemeinen und diesen König im Besonderen sehr respektieren und auch verehren. Das Volk ist konservativ, nicht nur was seine Auslegung des Islam angeht, sondern auch und vor allem in seinen Werten und Vorstellungen. Sie halten den König für weise und für den Mann, der schon am besten wissen wird, was gut ist für sein Volk. Viele fürchten, wer oder was auf den sehr modern eingestellten Abdallah folgen wird. Und so lange noch genug Geld für die ein oder andere Finanzspritze da ist, werden sich wohl die kleineren Proteste schnell zum Schweigen bringen lassen.

Schwierig wird es erst, wenn das mal nicht mehr geht, oder wenn der über 80-jährige König einem vielleicht weniger großzügigen Herrscher Platz machen muss.Sollte Abdallah nicht jetzt schon, im Zuge dieses Panarabischen Frühlings, anfangen, sein junges Volk (über 40% sind unter Dreißig) in Richtung Demokratie zu erziehen? Könnte man als erste Maßnahmen die Zensur lockern, öffentliche Debatten erlauben und sogar fördern, ebenso wie die Formierung von politischen Parteien erlauben, sodass, wenn es – in vermutlich nicht allzu ferner Zukunft – zu einem Wechsel an der Spitze des Königreiches kommt, das Volk umgehen kann mit einer vielleicht etwas längeren Leine? Oder sind diese Ideen und Ansätze zu humanistisch, zu demokratisch? Wann weiß man, wann ein Volk reif ist für Demokratie? Bei uns hat es mehr als hundert Jahre gebraucht von den ersten Ansätzen bis zu einer voll funktionsfähigen Republik.

Was zur Zeit im Nahen Osten vor sich geht, ist vermutlich die spannendste, weitreichendste politische Entwicklung seit dem Ende des kalten Krieges. Was seit ein paar Wochen in Nordafrika und im arabischen Mittelmeerraum geschieht, wird die Welt verändern, das ist inzwischen keine Neuigkeit mehr. Dass Saudi Arabien dabei eine zentrale Rolle spielen wird, auch nicht. Umso spannender wird es sein, sich weitreichender und tiefer mit diesem seltsamen, geheimnisvollen Wüstenreich zu beschäftigen.

Als (zugegeben sehr weiten) Bogen kann ich hier allen Interessierten noch einmal Robert Fisk ans Herz legen, und sein Opus Magnum, „The great war for civilisation“, dass es leider und wie ich finde, völlig unverständlicherweise bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Vielleicht sollte ich mich mal an die Arbeit machen ….

Wie ein Krimi, wie ein Traum war das die letzten drei Wochen. Wer hätte das gedacht, noch vor einem Monat oder zweien? Ein Mann, der sich dreißig Jahre lang an einer Staatsspitze festgezeckt hatte, der sein Land und seine Menschen unterdrückt, gefoltert, geknebelt und ausgeblutet hat – dieser Mann ist nicht mehr.

Zumindest nicht mehr auf seinem Stuhl. Und seine Menschen, diese gefolterten, geknebelten und ausgebluteten, die haben es geschafft, mit unglaublicher Würde, Ausdauer, Frieden und Schönheit, was niemand für möglich gehalten hat.

Ich bin immer noch ganz überwältigt von den Bildern der letzten Wochen und der vergangenen Nacht. Ich, die ich zwar dem Pass nach keine Ägypterin, aber dem Genpol nach zumindest Araberin – ich fühle mich ohnehin seit ein paar Jahren und seit gestern erst recht im Herzen diesem Land und diesen Menschen zugehörig.Ich hatte so viel Glück bisher in meinem Leben, und wenn sich meine Eltern vor zwanzig Jahren anders entschieden hätten, wäre ich vielleicht auch in einem totalitären Regime groß geworden und würde da leben, wo es ein großer Teil meiner Familie noch heute tut. Und deshalb gehen meine Wünsche, die ich an diese Revolution habe, auch über Kairo, über Masr und die arabische Welt hinaus.

Ich wünsche mir, dass niemand von uns diese Bilder je vergisst, diese Freude, diesen Optimismus, diesen unbedingten Siegeswillen im Namen der Freiheit und Gerechtigkeit. Unser so typisch deutscher Zynismus, unsere Miesepetrigkeit hat zumindest für den Moment hier wirklich keinen Platz! Ich wünsche mir dieses Gefühl der Einigkeit, des füreinander Einstehens und Kämpfens für eine gemeinsame Idee auch hier, bei uns, wo kaum jemand Kraft und Lust hat, für etwas zu kämpfen, und sich meistens schämt, etwas zu fühlen.

Ich wünsche mir, dass diese Revolution für Ägypten gut ausgeht, dass der 11. Februar als der Tag in die Geschichte eingeht, an dem in „Umm ad-Dunya“ (Mutter der Welt – wie man Masr dort nennt) die Demokratie eingekehrt ist, und nicht als der Tag, an dem ein Depot den anderen abgelöst hat.

Ich wünsche mir, dass wunderbare Dichter und Denker frei reden, schreiben und sich mitteilen können, auch, damit wir sie hier bei uns endlich zu hören bekommen.

Ich wünsche mir, dass der Funke überspringt nach Palästina, dass sich auch da die Jugend ohne Waffen befreien kann.

Ich wünsche mir, dass wir im Westen unsere Freiheit mehr schätzen und jeden Tag zumindest einen Moment lang dafür dankbar sind.

Ich wünsche mir, dass Thilo Sarrazin sich beim Anblick der Bilder aus Cairo in Grund und Boden schämt für seine bodenlosen, blasierten Dummheiten, die ihm Millionen gebracht haben. Da konnten Kopftuch- und Bartträger wohl doch ’n bisschen mehr als Gemüse und Döner verkaufen!!!

Und zu allerletzt wünsche ich mir sobald wie möglich ein Flugticket nach Cairo, um es in die Arme zu schließen von der Dachterrasse aus, auf der ich letztes Jahr schon über dem Nil getanzt habe. Und zu guter Letzt noch das Bild, das für mich diese letzten Tage geprägt hat und mir immer wieder die Tränen in die Augen treibt. (ich wollte eigentlich mehrere Bilder zusammen stellen, aber ich konnte mich nicht entscheiden … es wäre unendlich geworden. also nur dies eine …) Und damit ist dann auch erstmal genug von der Revolution … vorerst.


 

Eigentlich hatte ich gestern vor, hier endlich mal wieder etwas zu schreiben, dass nichts mit der Situation in Ägypten zu tun hat. Immerhin bin ich ja hier kein Nachrichtenticker, und inzwischen kann man sich ja sogar in deutschsprachigen Medien ganz gut informieren.

Auch wenn ich weiterhin eher AlJazeera English, BBC, CNN und dem Guardian vertraue, kann man bei der Süddeutschen, Spiegel Online, der taz und sogar bei der verschnarchten ARD gute Dinge lesen.

Außerdem hätte ich gestern sogar einen aktuellen, persönlichen und freudigen Anlass gehabt, hier eine schöne Geschichte zu schreiben. Eine meiner Lieblingscousinen in Saudi Arabien hat nämlich gestern geheiratet, und ich hätte gern bei dieser Gelegenheit meine Erlebnisse bei der letzten saudischen Hochzeit, die ich im Oktober 2010 besucht habe, hier mit euch geteilt. Naja, beim nächsten Mal.

Aber dann hing ich doch wieder bis um ein Uhr in der Nacht vor dem AlJazeera Livestream und habe Cairo geguckt. Inzwischen muss man sich ja fragen, ob da nicht vielleicht Hollywood seine Finger im Spiel hat und den Menschen eine riesige Tragikomödie mit echten Darstellern bietet. So wie bei Wag the Dog, dem Film, der weltpolitischen Zynismus so furios in Szene setzt.Seit den frühen Abendstunden hatte man also gestern darauf gewartet, dass Präsident Mubarak zu seinem Volk spricht. „All eure Forderungen werden erfüllt werden“, sagte ein Armeesprecher in einer TV-Ansprache. Überall las und hörte man plötzlich, dass sich Rücktrittshinweise verdichten sollten, Obama gab sich euphorisch, die Leute im Tahrir versammelten sich in Riesenmengen, um die größte Party in der Geschichte des Nahen Ostens zu feiern.

Und dann das. Um ca. 22 Uhr unserer Zeit tritt der Tattergreis vor die Kameras und gibt erneut den enttäuschten Vater, wiederholt im Grunde fast wörtlich, was er in seiner letzten Rede gesagt hat, mit kleinen Abweichungen. Schon nach den ersten Minuten der Rede, in denen klar wurde, hier spricht nicht einer, der sich gleich ins Flugzeug nach Dubai setzt und sich auf nimmer Wiedersehen verabschiedet, wurden die Pfiffe, Buh-Rufe und wütende Parolen auf dem Tahrir immer lauter. Die Leute sind nun unfassbar und zu Recht und verständlicherweise wütend. Man fragt sich wirklich, wie verblendet Präsident und sein Vize Omar Suleiman, der kurz darauf vor die Kameras trat, sein müssen. Den Menschen jetzt, zu diesem Zeitpunkt zu sagen: „Geht nach Hause, geht an die Arbeit, das Land braucht euch“ ?? Man fragt sich auch, wer hat diese Rede geschrieben.

Heute also geht der Protest weiter, in seinen 17. Tag, und es sollen mehr Leute werden denn je. Mir persönlich macht das große Angst. Das kann ja nur in einer Katastrophe enden. Wenn heute wieder hunderttausende Menschen in Cairo Downtown ihre Rechte fordern und Mubaraks Sturz herbei wünschen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es zu noch mehr und noch schlimmerer Gewalt kommt als nach Mubaraks letzter Ansprache. Er wird dann seinen internationalen Kritikern zurufen: „Was wollt ihr denn, ich habe doch Zugeständnisse gemacht! Die Leute sind irrational, von internationalen Medien verblendet und wollen nicht auf ihren Übervater hören. Da hilft nur die Peitsche!“ Außerdem, und das hat er ja gestern klar gemacht, lässt er sich sowieso von niemandem etwas sagen. Weder von außenstehenden Mächten, noch von seinem Volk, wie’s scheint.

Er wird bleiben, bis er das Drehbuch für eine weitere gefälschte Wahl im September fertig gebastelt und die Regierungsverantwortung seinen Zöglingen übergeben hat, und er wird auf ägyptischem Boden sterben. Als alter Militärmann ist es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass er diesen seinen Entschluss immer wieder betont. Aber das Ausmaß von Sturheit, das diese Männer gestern einmal mehr an den Tag gelegt haben, das wird ab heute immer gefährlicher. Den Demonstranten bleiben ja nicht mehr viele Möglichkeiten. Das Staatsfernsehen sollten sie besetzten, schrieb gestern jemand auf Facebook. Mit einem gecharterten Helikopter auf dem Dach landen und so die Sicherheitskräfte vor den Toren umgehen. Schöne Idee. Ich sag ja – Hollywood.

Es kann eigentlich nur noch das Militär entscheiden. Das Militär, das ohnehin seit Wochen Puffer und Zünglein an der Waage ist.
Es bleibt zu hoffe, und mehr als hoffen kann ich nicht, dass alles doch noch gut ausgeht. Wer hat den längeren Atem, wer sitzt am längeren Hebel?

Die Schriftstellerin und Aktivistin Nawal El-Sadawi, inzwischen ganze 80 Jahre alt, ist nicht bereit, sich vom korrupten Mubarak-Regime und seinen gekauften Schergen einschüchtern zu lassen. Eine beeindruckende, inspirierende Frau!!

 

West-östliche Diva